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Donnerstag, 11. Oktober 2012

Was Hänschen nicht lernt...

Ein Vater gestand seinem Sohne jeden Mutwillen so lange zu, bis dieser ihm in allen Stücken über den Kopf gewachsen war und er kleine Gewalt mehr über ihn hatte.

Der Sohn beging ein schändliches Bubenstück nach dem andern und wurde endlich außer Landes gejagt. Doch spielte er sich bald darauf in einen Busch unweit der Stadt und ließ seinen Vater zu sich herausrufen; er wollte sich, wie die Botschaft lautete, vor seinem Ende noch einmal an seinem Anblick letzen.

Als aber der Alte zu ihm herauskam, empfing er ihn kalt und forderte ihn auf, ihm aus dem Stamm einer kräftigen Eiche, die er ihm zeigte, eine Rutenschlinge zu machen. Das sei ihm unmöglich, erwiderte der Alte betroffen, er könne den Baum nicht zwingen, und auch wenn er ihn zwingen könnte, so würde er nur zerbrechen. "So macht mir", sagte der Sohn, "die Schlinge aus diesem jungen Weidenstrauch hier."

Dies geschehen, nahm er sie ihm aus der Hand und sagte: "Mein Vater, sehet, als ich noch ein kleines Bäumlein war, da hättet Ihr mich auch beugen können und ziehen nach Eurem Willen. Aber jetzt bin ich in meiner Bosheit erstarkt, niemand kann mich mehr zwingen, und ich kann mein Herz selber nicht mehr zwingen, denn die Schurkerei ist mir durch alle meine Adern und Blutstropfen gekrochen, ich kann sie nicht mehr lassen, und es ist unausbleiblich, daß ich dem Diebshenker in die Hände komme und darum muß ich Euch zuguterletzt den Lohn geben für Eure Kinderzucht." Damit warf er ihm die Schlinge um den Hals, erwürgte ihn und hängte ihn an die Eiche. Nicht lange darauf starb er selber, wie er voraussagte, von Henkers Hand.

Aus Deutsches Anekdotenbuch; Ein Sammlung von Kurzgeschichten aus vier Jahrhunderten; München; 1942

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